„Mar borrascoso“ — Stürmisches Meer, der Rio de la Plata und die Wellen des Gustave Courbet

An der Rückwand der schmalen, ozeanblauen Sala 13 des Museo Nacional de Buenos Aires (MNBA), des pinkfarbenen Kunsttempels der argentinischen Hauptstadt an der Plaza General San Martin, überwältigt Besuchende ein metergroßes Ölgemälde des französischen Künstlers Gustave Courbets (1819-1877). Mit dem Titel „Mer orageuse / Mar borrascoso“ versehen, kündet ein kleines, weißes Schild den Künstlernamen, die Maße 80 x 100 cm, die der „Arte Siglo XIX (1800-1910)“ zuzuordnende Schaffensperiode sowie durch den Zusatz „óleo sobre tela“ die Maltechnik; Öl auf Leinwand.

Gustave Courbet: Mer Orageuse (Mar borrascoso), 1800-1910, Öl auf Leinwand, 80 x 100 cm, Museo Nacional de Buenos Aires (MNBA). © 4.0 Wikimedia, Isha 2015.

Der Blick wird unwillkürlich, durch die fluchtpunktartige Architektur des Saales, zu einem „Kunsterlebnis,“(1) zum verzweifelten Sprung in dieses stürmische Naturereignis gerufen, angesichts der unsicheren Wiederkehr aus dem Gewittermeer beinahe gezwungen.

Ist es doch keine arkadisch grünende Landschaft mit rinnenden Bachläufen, deren durch beständigen Wasserfluss und mühsame Pinselführung geformte Geschwungenheit den Blick in seinen Bann zu ziehen vermag, sondern allein das überwältigende Tosen und umwerfende Wogen der Wellen, die beinahe spürbar stechend-klare Seeluft und der stürmende, die Gezeiten peitschende Wind, dessen unruhig aufgetragene Farbmengen die Besuchenden erzittern lassen: Als hätte Courbet das sturmgepeitschte Meer nicht etwa mit breiten Pinseln und reichlich aufgespachtelter Ölfarbe geschaffen, als wäre er, der Künstler selbst, in die stürmenden Fluten hineingetaucht, als hätte er mit eigenen Fingerspitzen die urgewaltigen, hinfortreißenden Wellen in das Meerwasser geführt.

„Paysages de mer“ — Die Maltechnik der Meereslandschaften Courbets

Courbet verwendete die Farbe ungewöhnlicherweise als Material, malte mit der Bürste, dem Messer, einem Lappen, gar dem Daumen oder — dies besonders meisterlich (2) — mit dem Palettmesser, einem maurerkellenartigen Spachtel. Nur durch den Einsatz dieses Messers lassen sich die übereinander gelegten Farbschlieren des Mar borrascoso erklären, die beinahe an heutige Gemälde Richters erinnern. Wie Pollock verwendete Courbet ausschließlich vorgefertigte Gebrauchsfarben; je mehr Farbmasse, desto schneller, freier und pastoser konnte Courbet seine stürmenden Wellengemälde en plein air bewerkstelligen, desto exakter konnte er den fruchtbarsten Moment des Wellenbrechens und Sturmpeitschens in dicken Farbbrocken auf seine übergroßen Leinwände bannen.(3)

Nur, wenn er das Meer malte, war er wirklich frei.(4) Courbet selbst schwärmte davon, wie schnell er seine „paysages de mer“, seine „Meereslandschaften“, die er in den Jahren 1869-1870 wiederkehrend behandelte, erschaffen würde. Beinahe vier solcher großflächigen Gemälde soll er an einem Tag geschafft haben, eine derartige Menge, dass einzelne Gemälde kaum exakt datiert werden können.(5)

Eine sensible Naturbeobachtung verfolgend und sich gegen die Modernisierung der Großstädte wehrend, bereiste er häufig die normannische Küste Frankreichs entlang des Ärmelkanals und malte in Étretat, einer Küstenregion der Normandie, die von der Fischerei und dem Seehandel geprägt war, obwohl sie sich in den 1860er-Jahren zu einem touristischen Badeort entwickelt hatte; so kamen auch andere Künstler wie Delacroix, Corot, Boudin oder Monet zu verschiedensten Zeiten hierher.(6) Im Sommer 1869 verbrachte Courbet hier eine Zeit lang als Gast in einem Haus inmitten der langen normannischen Küstenlinie mit den steilen, weiß-alabasternen und senkrechten Klippen, dem klaren, stechenden Wind und den besonders ausgeprägten Gezeiten und malte von den Fenstern des Hauses aus oder unmittelbar aus Ufernähe die riesigen, gegen die Klippen schlagenden Wellen.(7) Meist als kleinformatige Ölskizzen nach der Natur gemalt, pflegte Courbet diese in seinem Atelier auf großflächige Leinwände zu übertragen, zu überarbeiten und teilweise zu ergänzen.

„Les Vagues“ — Die Serie stürmender Wellen der Jahre 1869-1870

Leitmotivisch verarbeitete er in seiner „Vagues“-Serie, schlicht nach dem französischen Wort für „Wellen“ benannt,(8) das stürmische, aufgewühlte Meer als Protagonist; zwei „Vagues“-Werke wurden gar erfolgreich auf dem Pariser Salon von 1870 ausgestellt.(9) — Nicht ohne Grund also gehörte „Mar borrascoso / Mer oragueuse“ zunächst zur privaten, über dreißig Jahre hinweg in Buenos Aires und Europa erworbenen Sammlung von Rufino Varela (1838-1911), einem argentinischen Rechtsanwalt, Journalisten und Politiker. Im Jahr 1896 schließlich verkaufte Varela ein Konvolut einiger seiner Gemälde; infolge einer der Auktionen wurde das Werk von dem jungen Dichter Domingo Martinto (1859-1898) erworben, der es wiederum ein Jahr später dem MNBA schenkte.(10)

Das seitdem im MNBA ausgestellte Courbet-Gemälde ist ebenfalls der „Vagues“-Serie zuzuordnen und zeigt emblematisch auf, wie widersprüchlich das Schaffen des französischen Künstlers ist: Kaum könnte Courbet der Tradition der romantischen Landschaftsmalerei näher und im selben Augenblick ferner sein, wenn er neben dem Leitmotiv des stürmenden Meeres und der markanten Horizontlinie kaum Menschen oder auch nur materielle Spuren derselben abbildet, dies aber mit dem Wogen der peitschenden Wellen, dem Widerschein des Lichts auf der schäumenden Gischt und dem Tosen des Windes durch sich auflösende, locker geschwungene Pinselstriche und Spachtelbewegungen kontrastiert.

Trotz der raschen Ausführung also ist das stürmende Meer sorgfältig komponiert und vermag unterschiedliche künstlerische Problemstellungen, die der Spannung zwischen Klein- und Großflächigkeit, des Zeitpunkt des Farbauftrags — so hatten die gemalten Wogen zu trocknen, bevor Gischt auf diese gesetzt werden konnte und die Farblagen sich vermischten — und der Akzentuierung des Lichts, geflissentlich zu lösen, indem es seine Wellen die Bildfläche wie ein idiosynkratisch-strukturierendes Prinzip unterschiedlicher Achsen zunächst von links nach rechts durchschneiden, dann aus entgegengesetzter Richtung widerstreben lässt.(11)

Die „action prolongée“ des Wellenstürmens, das „mit diesem mystischen und lähmenden Fatalismus seine Wogen heranwälzt“,(12) deren einzelne Wellen sich aufbauen, auftürmen und erst vornüber stürzen, dann ineinander fallen und zuletzt in weißlicher Gischt auf den kaum zu erkennenden festen Meeresgrund klatschen.

Das „Mar borrascoso“ Courbets zwischen menschlichen Grundkonflikten und der Weite des Rio de la Plata

Doch es besteht noch eine weitere Konfliktlinie, die bei der Betrachtung von „Mar borrascoso“ zutage tritt. Neben bewaldeter Natur, dichten Hainen und großflächigen Landschaften bevorzugte Courbet in seinem gesamten Werk stets die Abbildung von Wasser, so durch reißende Mühlengräben, schmale Rinnsale oder stürmende Meere, bei denen derfranzösische Künstler eine gewisse Dichotomie zwischen „imagination of sound“ und „experience of silence“ entstehen lässt.(13)

Eben aufgrund des staunenden Betrachtens im Museumssaal werden Betrachtende beinahe mehr zum Zuhören als zum Zuschauen verleitet, erwartet wird geradezu das Grollen des Donners und das Klatschen der Gischt auf den harten Sand. Die „Vagues“-Serie, zu der auch „Mar borrascoso“ zuzuordnen ist, formt dabei keine gewöhnliche, serielle und das Motiv bloß variierende Produktion, denn jedes Gemälde ist mit einer eigenen stilistischen und motivischen Einzigartigkeit komponiert, einem besonderen Winkel, Rahmen und Licht, die Courbet als Momentaufnahme im normannischen Étretat, ganz im Sinne des „Realismus“, einfing.(14)

Nur selten gelang es ihm daher, den Meeresgrund, das Ufer, Menschen oder Objekte darzustellen, und nur in einigen wenigen Gemälden sind Boote oder Schiffe in der Ferne, am markanten Horizont auszumachen, so etwa in der „Welle“ (1869-1870) der Alten Nationalgalerie, deren dunkle Farbpalette einige wenige, verloren und mit verzweifelt aufgeblähten Segeln gegen ein gewaltiges Wetterstürmen, gegen die Naturgewalt des Wassers ankämpfende Boote umgibt;(15) gar der Ausstellungssaal riecht hier, mit einem Wort Paul Cézannes nach „Wasserstaub“.(16)

In Buenos Aires derweil, dem Ausstellungsort des „Mar borrascoso“, mag man zudem an den Rio de la Plata erinnert werden, der sich vor den Porteños und Porteñas, der Bevölkerung der argentinischen Hauptstadt, in unüberschaubare Weiten erstreckt und wie ein endlos offenes Meer da liegt, dessen rioplatensische Grenzen allein durch den weit entfernten Horizont bewusst werden.

Das sich beinahe bewegende, horizontlose, hin und her wogende Meeresstürmen, der stürmisch-tosende Wind und das sich auf der schäumenden Gischt der Wellen widerspiegelnde Gewitterleuchten lassen unwillkürlich an den ohnehin etwas dunklen Rio de la Plata denken, wenn Betrachtende vor den Courbet treten. So mögen die Betrachter*innen in der Sala 13 des MNBA, nichts in den Ohren als das betäubende Rauschen, Brausen und Aufwerfen der Wellen, daran erinnert werden, wie vieles doch so viel einfacher wäre, würde der tosende Seewind ohne Warum wehen, die stürmenden Wellen ohne Weshalb schlagen und die Menschen ohne Woher leben, sodass sich zwischen Freiheit und Formwerdung, zwischen Gewalt und Zerstörung, im „Mar borrascoso“ ein dem Mensch- und In-der-Welt-Sein basaler Konflikt zwischen Natur, der ein Individuum umgebenden Um-Welt und den jeweils eigenen Bedürfnissen abzeichnet.

Auch der französische Schriftsteller, Journalist und Philosoph Albert Camus unternahm 1949 eine Vortragsreise nach Südamerika, dabei auch nach Buenos Aires, und notierte am 1. Juli desselben Jahres angesichts der Weite des Ozeans in seinem Reisetagebuch: „Ich betrachte das Meer und versuche wieder einmal, das Bild festzuhalten, das ich seit zwanzig Jahren für diese Ranken und dieses Muster suche, die das vom Vordersteven verdrängte Wasser auf dem Meer zeichnet. Wenn ich es erst einmal gefunden habe, wird alles vorbei sein.“(17) — Beinahe entgegenhalten möchte man dann, dass dies knapp ein Jahrhundert vor ihm bereits einem anderen Franzosen gelungen war.

(1) Spickernagel, 1980, S. 135. (2) Vgl. Küster, 2014, S. 73. (3) Vgl. Küster, 2014, S. 73 u. 76. Zu Farbauftrag, Perspektive und ‘prozessuralem Status’ der Werke Courbets: Herding, Klaus, 2010, S. 10-11. (4) Vgl. etwa Küster, 2014, S. 71: „Besonders Landschaften boten ihm die Möglichkeit, seine künstlerische Individualität zu demonstrieren.“ (5) Vgl.: Küster, 2014, S. 78. (6) Vgl. Melgarejo, 2022, o. S. (7) Vgl. Melgarejo, 2022, o. S.; Küster, 2014, S. 76. Zur Kommentierung der „Felsenküste bei Étretat“ Courbets, vgl. Herding, 2010, S. 249. (8) Vgl. Kommentierung der „Vagues“-Serie, dort „Wogen“ genannt, in: Herding, 2010, S. 250-253. (9) Melgarejo, 2022, o. S. (10) Zur Provenienz des „Mar borrascoso“ im MNBA vgl. Melgarejo, 2022, o. S. (11) Zum auch in Courbets „Steinklopfern“ aufkommenden Spannungsverhältnis zwischen „Großflächigkeit und Kleinteiligkeit“ vgl. Herding, 2010, S. 13.(12) Mann, 2021, S. 672. (13) Fried, 1990, S. 110. (14) Vgl. Küster, 2014, S. 76: So musste stets „der richtige Augenblick des Wellenbrechens erfasst werden.“ Zu Courbets eigenem, bereits in den 1850er-Jahren ausgeprägten positivistischen „Realismus“-Verständnis vgl. Rubin, 1980, S. 65-67. (15) Vgl.: Galves, 2010, S. 61-62. (16) Doran, Michael (Hg.), 1982, S. 178. (17) Camus, 2021, S. 49.

Literaturverzeichnis

Camus, Albert: Reisetagebücher, hrsg. von Roger Quilliot, 6. Aufl., Hamburg 2021. Doran, Michael (Hg.): Gespräche mit Cézanne, Zürich 1982.

Fried, Michael: Courbet’s realism, Chicago 1990.

Galves, Paul: Im Auge des Sturms, in: Herding, Klaus (Hg.): Courbet. Ein Traum von der

Herding, Klaus: Der „andere“ Courbet, in: Ders. (Hg.): Courbet. Ein Traum von der Moderne, Ostfildern 2010, S. 10-18.

Küster, Ulf: Gustave Courbet, Ostfildern 2014.

Mann, Thomas: Buddenbrooks. Verfall einer Familie, 14. Aufl., Frankfurt 2021.

Melgarejo, Paola: Comentario sobre Mer Orageuse (Mar borrascoso) auf der Webseite des Museo Nacional de Bellas Artes. (Letzter Zugriff am 28.11.2022: https://www.bellasartes.gob.ar/ coleccion/obra/2434/).

Moderne, Ostfildern 2010, S. 58-64.

Rubin, James Henry: Realism and Social Vision in Courbet & Proudhon, Princeton 1980.

Spickernagel, Ellen: Courbet als Gegenstand einer Ausstellung, in: Gallwitz, Klaus (Hg.): Malerei und Theorie. Das Courbet-Colloquium 1979, Frankfurt a. M. 1980, S. 131-138.

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