Das Tempelhofer Feld zur Blauen Stunde. Eine Heterotopie?

Veröffentlicht am 21.01.2024

Abb. 1: Die Tagesbar Blaue Stunde, Tempelhofer Feld, Berlin, Foto ©: Amelie Gottsmann.

Welche Aufgaben muss ein Garten oder ein Park erfüllen und welche Vorstellungen und Erwartungen haben wir, wenn wir einen solchen besuchen? Welche Rolle spielt dabei die eigene Wahrnehmung?

Diese Fragen stellen sich mir speziell im Hinblick auf das Tempelhofer Feld, das im Vergleich zu allen anderen Grünflächen der Stadt Berlin durch seine einzigartige Weitläufigkeit, ob positiv oder negativ gewertet, heraussticht. Auf die Forderung nach schattenspendenden Bäumen für das Feld entgegnete der ehemalige Chef der Stiftung Zukunft Berlin (10.08.2012): „Was ich nicht liebe, ist, wenn es in einer Stadt überall alles von etwas Schönem und vielleicht sogar in der immer gleichen Art geben soll. Ich liebe das Anderssein der Stadt von Abschnitt zu Abschnitt.“(1)

Ebenso wurden Stimmen laut, welche die Verhältnismäßigkeit dieser riesigen freien Fläche zur zugleich bestehenden Wohnungsnot in Berlin in Frage stellten. Ob nun eine Randbebauung das Problem lösen und wer am Ende davon tatsächlich profitieren würde, steht auf einem anderen Blatt Papier. 2014 setzte sich die Mehrheit der BerlinerInnen in einem Volksentscheid gegen eine Randbebauung ein. Aber auch in ästhetischer Hinsicht scheiden sich die Geister über den Alien-artigen Charakter der riesigen Freifläche.

Abb. 2: 07:35 Uhr, Tempelhofer Feld, Berlin, Foto ©: Amelie Gottsmann.

Es ist der 02. Januar 2023 und ich begebe mich auf das Tempelhofer Feld, um den bevorstehenden Sonnenaufgang fotografisch festzuhalten. Mein Ziel: Das Atmosphärische des Tempelhofer Feldes während der Blauen Stunde zu dokumentieren. Die Abbildungen 2-7 zeigen die zwischen 7:35 und 8:42 Uhr entstandenen Aufnahmen.

Um 7:30 Uhr sind die Tore bereits geöffnet und ich betrete das Feld von der Tempelhofer Seite. Der Himmel ist tiefschwarz und die Stadt schläft noch weitestgehend – so scheint es. Doch binnen weniger Minuten färbt sich der Himmel beständig in ein heller werdendes Blau. Die ersten Sonnenstrahlen erstrecken sich über der Weite des Tempelhofer Feldes. Mit etwa 10 Grad Celsius ist es für einen Januartag sehr warm. Auf dem Tempelhofer Feld findet der Wind jedoch ausreichend Platz und so ist es hier ein paar Grad kühler als in den umliegenden Straßen.

Abb. 3: 07:41 Uhr, Tempelhofer Feld, Berlin, Foto ©: Amelie Gottsmann.

Nur wenige Menschen befinden sich zu dieser Uhrzeit hier. Hin und wieder scheint mir ein Fahrradlicht entgegen. Vereinzelt nehme ich SpaziergängerInnen mit Hund oder Kinderwagen wahr. Die Lichter der Stadt flirren in der Ferne und das Geräusch vorbeifahrender Autos ist dumpf zu vernehmen. Einige Vögel zwitschern und krähen bereits, aber sie werden weitestgehend vom Wind übertönt. Inzwischen ist es 8 Uhr morgens. Der Himmel hat eine gräuliche, leicht lila-blaue Farbe angenommen. Es ist kein Sonnenaufgang aus dem Bilderbuch – vielleicht weil es ein Januartag und kein Sommermorgen im August ist und vielleicht, weil ich die Sonne von meinem aktuellen Standort gar nicht direkt sehen kann. Trotzdem fühle ich mich befreit und eine meditative Stille macht sich in mir breit. Es wird noch weitere 15 Minuten dauern, bis die Sonne vollständig über den Dächern Berlins liegt und mich aus dem mystischen Zustand des „Dazwischen-Sein“ holt.

Abb. 4: 07:48 Uhr, Tempelhofer Feld, Berlin, Foto ©: Amelie Gottsmann.

Zu Hause sehe ich mir die entstandenen Fotografien an und stelle ernüchternd fest, dass diese nur bedingt dem entsprechen, was ich dort auf dem Feld innerlich wahrgenommen habe. Diese Divergenz mag mitunter an meinem technischen Können liegen, doch zugleich weiß ich, dass selbst die professionellsten Bilder nicht imstande wären, jene Atmosphäre festzuhalten. Doch wieso? Was ist unter dem Begriff der Atmosphäre zu verstehen?

Etymologisch betrachtet, stammt der Begriff aus dem Griechischen: „atmós“ für Dampf, Dunst, Hauch und „sphairos“ für Kugel und ist damit ein aus der Physik stammender Begriff, der häufig im Zusammenhang des Klimadiskurses und der naturwissenschaftlichen, geophysischen sowie meteorologischen Forschung auftaucht.(2) Dem physikalischen Atmosphäre-Begriff steht der anthropozentrische Ansatz gegenüber, welcher die Wechselwirkung des Menschen mit anderen Personen, Dingen und/oder Räumen meint. Dazu zählen die sogenannten intendierten Atmosphären, wie beispielsweise in der Gebäude- und Städteplanung. Sobald die Atmosphäre auf unsere Lebensrealität übertragen wird, also zu einer Gefühlsatmosphäre wird, lässt sie sich nicht mehr messen. Es handelt sich also um ein paradoxes Phänomen, das einerseits zweifellos existiert und allgegenwärtig zu sein scheint und sich andererseits, aufgrund des diffusen, kategorienverweigernden Charakters wissenschaftlicher Analysen entzieht.(3)

Abb. 5: 08:12 Uhr, Tempelhofer Feld, Berlin, Foto ©: Amelie Gottsmann.

Gernot Böhme bezeichnet Atmosphären im philosophisch anthropologischen Sinne als „Undinge“ der Wissenschaft, da sie keine wirklich existierenden Entitäten sind. Er beschreibt sie als Gefühlsmächte, mit denen wir es alltäglich zu tun haben. Ein wichtiges Kriterium stellt ihre Räumlichkeit dar, die sich unbestimmt in die Weite ergießen kann. Schönheit und Erhabenheit seien zwei Beispiele möglicher Atmosphären, wobei Böhme sich auf Kants Begriff der Erhabenheit im Zusammenhang mit der Naturerfahrung bezieht. Hier liegt das Gefühl des Erhabenen nicht nur rein in dem Übermächtigen der Natur, sondern ebenso im Menschen, der auf sie reagiert und dadurch erst mitbestimmt, was ihre Atmosphäre ausmacht. Das bedeutet, dass es sich nicht nur um eine Projektion durch die eigene Wahrnehmung handelt, sondern Atmosphären sich umgekehrt auch auf unser Gemüt auswirken.(4)

In Hinblick auf meine Fotografien bedeutet das, dass sie in ihrer 2-Dimensionalität niemals den immersiven, räumlichen Charakter erreichen können, den ich erlebe und spüre, wenn ich mich selbst auf dem Feld befinde. Sie geben den Vorgeschmack auf etwas, das in der Realität stattgefunden hat und stellen zugleich nur einen festgefrorenen und damit gewissermaßen toten Moment einer eigentlich sehr lebendigen Szene dar. Dennoch dokumentieren und „beweisen“ sie den zeitlichen Ablauf des zwischen 7:35 und 8:12 Uhr beständig heller werdenden Himmels.

Abb. 6: 08:18 Uhr, Tempelhofer Feld, Berlin, Foto ©: Amelie Gottsmann.

Doch welche Bedeutung hat der Atmosphäre-Begriff in Bezug auf Parkanlagen?

In der Landschaftsgestaltung, also den intendierten Atmosphären, wirkt sich jede gestalterische Entscheidung auf das Gesamterlebnis aus: Wildwuchs oder gemähter Rasen? Exotische Blumen oder heimische Pflanzen? Sitzgelegenheiten? Sportpfade? Ein barocker Schlossgarten muss andere Kriterien erfüllen als eine kleine Grünfläche oder ein Volkspark. Was sie jedoch vereint, ist dass sie meist zur Erholung und Entspannung aufgesucht werden. Sie dienen der Unterbrechung des Alltags, als soziale Treffpunkte und versprechen eine positive Auswirkung auf unsere Gesundheit.

Jürgen Hasse beschreibt sie als Sonderräume inszenierter Natur, die einer anderen Wirklichkeit angehören. Parks, als Variationen des Gartens, erzählen den Mythos einer schönen und guten Welt und erfüllen damit politische und sozialpsychologische Aufgaben.(5)

Dabei handelt es sich, in Anne Kempers Worten, um ein Ineinander von Natur und Kultur. Einerseits werden der Natur kulturelle Zitate beigemessen und andererseits wirkt sie als „Co-Produzentin“ zur künstlerischen Formung mit.(6)

Abb. 7: 08:42 Uhr, Tempelhofer Feld, Berlin, Foto ©: Amelie Gottsmann.

Unser kultureller Hintergrund sowie Vorwissen über einen Ort bestimmen demnach mit welcher Erwartungshaltung wir diesen betreten und wie wir auf ihn reagieren. Gleichzeitig wirken äußere Bedingungen auf uns ein. Dazu zählen die klimatischen Bedingungen – Regnet es? Zieht ein Gewitter auf? Ist es warm oder kalt? – aber auch die Objekte und Personen, mit denen wir automatisch in Verbindung treten.

Foucault zufolge leben wir nicht in einer leeren Welt, in der die Dinge unabhängig voneinander existieren und zu situieren sind. Wir befinden uns in Räumen, die mit unterschiedlichen inneren Qualitäten aufgeladen und durch „Beziehungsbündel“ zu charakterisieren sind. Am Beispiel des Zuges entschlüsselt er: mit ihm gelangen wir von A nach B, wir durchqueren ihn und er ist
etwas das selbst passiert.(7) Er spricht von einer „[...] Gemengelage von Beziehungen, die Platzierungen definieren, die nicht aufeinander zurück zu führen und nicht miteinander zu vereinen sind.“(8) Auf den Garten, beziehungsweise Park übertragen, ist er ein Ort, der sich mitten in der Stadt befindet, daher zu ihr gehört, aber gleichzeitig einen Ort der Unterbrechung und des Andersseins darstellt. In Hasses Worten: „Er ist in der Stadt, er gehört zur Stadt, aber er ist zugleich doch das Andere der Stadt.“(9)

Diese Art von Raum bezeichnet Foucault als „Heterotopie“ – Orte außerhalb aller Orte, gleichwohl sie existieren und zu lokalisieren sind.(10) Ihr volles Funktionieren erreichen sie nur, wenn Menschen mit ihrer herkömmlichen Zeit brechen. Zusätzlich erfordern sie ein System der Öffnung und Schließung, welches sie zugleich isoliert und durchdringlich macht.(11)

In diesem Sinne denke ich, dass das Tempelhofer Feld Foucaults Definition einer Heterotopie mehr als entspricht und tatsächlich als das „Andere“ der Stadt zu betiteln ist. Es gehört zur Stadt und grenzt sich doch von ihr ab. Es vereint die Kriterien der Abgeschlossenheit und Durchdringlichkeit sowie das Gefühl der zeitlichen Unterbrechung, sobald man es betritt. Im Laufe der Geschichte hat es einige „Mutationen“ erlebt und spiegelt daher die wechselvolle Geschichte Berlins wider, während es aktuell zweckentfremdet der Freizeit und Erholung dient. Sein Charakter ist wechselhaft und stark vom Wetter und bestimmter Veranstaltungen abhängig. Mal ist es eine karge Wüste im Hochsommer, mal ein von Menschen überflutetes Festival-Gelände. Mal, so wie ich es am 02.01.23 erleben durfte, ein stiller, friedlicher Ort zwischen Nacht und Tag.

(1) Hassemer, 2021, o. S. (2) Heibach 2012, S. 9. (3) Ebd. S. 9-11. (4) Böhme 2006, S. 19-25. (5) Hasse 2015, S. 238. (6) Kemper 2001 (Diss.), S. 141. (7) Foucault 1992, S. 38. (8) Ebd. (9) Hasse 2015, S. 238. (10) Foucault 1992, S. 39. (11) Ebd. S.43-44.


3. Literaturverzeichnis

Hassemer, Volker: Debatte um das Tempelhofes Feld: Bloß keine Bäume!, 2021, online unter: https://www.tagesspiegel.de/berlin/bloss-keine-baume-3950500.html (Letzter Zugriff am 26.09.2022).

Heibach, Christiane (Hg.): Atmosphären. Dimensionen eines diffusen Phänomens, München 2012.

Böhme, Gernot (Hg.): Architektur und Atmosphäre, Paderborn 2006.

Hasse, Jürgen: „Zur Atmosphäre eines urbanen Grünraums: Der Park am Gleisdreieck“, in: Lichtenstein, Andra und Mameli, Flavia Alice (Hg.): Gleisdreieck. Parklife Berlin, Bielefeld 2015.

Kemper, Anne (Hg.): Unverfügbare Natur. Ästhetik, Anthropologie und Ethik des Umweltschutzes, Frankfurt am Main u.a. 2001 (Diss.).

Foucault, Michel: Andere Räume, in: Barck, Karlheinz u.a. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1992.

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