Die konservierte Natur am Beispiel der Fotografien von Karl Blossfeldt

Karl Blossfeldt wurde am 13. Juni 1865 in Schielo geboren. Um 1884/85 begann er ein Studium an der Unterrichtsanstalt des Königlich Preußischen Kunstgewerbemuseums (heute Universität der Künste, Berlin), wo er unter anderem das Zeichnen lernte. Danach begann Blossfeldt eine Assistenz beim emeritierten Professor des Kunstgewerbemuseums, dem Maler und Kunstpädagogen Gottlob Moritz Meurer (1839-1916) in Rom. Blossfeldt interessierte sich damals, wie auch Meurer, für die Morphologie (Wissenschaft und Lehre über Formen und Erscheinungen von Lebewesen und Organismen). Seit seinem 19. Lebensjahr interessierte er sich für die Formen der Natur und nutzte diese für seine späteren Pflanzenfotografien.

Abb. 1: Karl Blossfeld: Adiantum pedatum, 1928, Haarfarn, Gelatinesilberabzug, 23,7 x 29,7 cm, Karl Blossfeldt, Public domain, via Wikimedia Commons.

Um 1898 führte ihn sein Weg erneut an das Kunstgewerbemuseum in Berlin. Er trat dort eine Stelle als Lehrer für das Fach „Modellieren nach lebenden Pflanzen“ an. In dieser Zeit beschäftigte er sich intensiv mit der fotografischen Reproduktion von Pflanzen bzw. Pflanzenteilen. Sein 6.000 Abzüge umfassendes Archiv diente als zeichnerisches Vorlagenmaterial für seinen Unterricht. (1)

Über diesen Zweck hinaus, maß Karl Blossfeldt seinen Fotografien keine besondere künstlerische Eigenständigkeit zu. Erst der Berliner Galerist Karl Nierendorf erkannte die hohe Originalität der Fotografien und machte die botanischen Motive in einer Ausstellung in seiner gleichnamigen Galerie 1926 für ein breiteres Publikum zugänglich.(2) Zwei Jahre später erschien Blossfeldts erster reich bebilderter Katalog „Urformen der Kunst“. Kurz vor seinem Tod im Jahr 1932 erschien der zweite Katalog „Wundergarten der Natur“. Die beiden Bände zählen heute zu den „Inkunabeln der Photographiegeschichte“(3) Blossfeldts Nachlass, ein Konvolut aus über 6.000 Fotografien, wurde 2010 vom Galeristen-Ehepaar Ann und Jürgen Wilde erworben, deren Sammlung heute Teil der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen ist.

Karl Blossfeldt kann in der Gegenwart als Wegbereiter für die Naturfotografien angeführt werden. Er konservierte und archivierte die Flora durch seine Kameralinse. Die formale Außergewöhnlichkeit seiner Naturbilder liegt im subtilen Eingreifen und dem minutiösen, stetigen Umgang mit seinen Motiven. Hierbei kuratierte er die Darstellung, indem er gewisse Teile der Pflanze entfernte und dadurch andere hervorhob. Er isolierte z.B. störende Elemente des Präparats und arrangierte sie auf einem neutralen Hintergrund. Zudem nahm er eine starke Vergrößerung vor. Die Resultate sind klare und nüchterne Reproduktionen. Wenngleich auch Blossfeldt keine eklatanten Veränderungen vornimmt, so wirken die Pflanzen bzw. Pflanzenteile häufig fremdartig und eigentümlich. Es ist diese Ambivalenz und Dualität die seine Naturbetrachtung auszeichnet. Eine Gleichzeitigkeit von Vertrautheit und Fremdheit.

Nun ist das Besondere an seiner Naturbetrachtung, dass sie nicht nur zur Rückbesinnung aufruft, sondern darüberhinaus zu einem ersten Anschauen und Erkennen überhaupt herausfordert. Es sind nämlich die Fotografien Blossfeldts, die aufzeigen wie unvertraut uns die Natur bei genauer Betrachtung noch ist. Blossfeldts Arbeiten werden der „Neuen Sachlichkeit“ zugeordnet, einer Kunstrichtung, die besonders im deutschsprachigen Raum zwischen 1900 und 1920 in der Malerei und Fotografie aufkeimte. Neben Blossfeldt sind etwa der Fotograf August Sander und die Maler*innen Christian Schad, Otto Dix und Lotte Laserstein als bekannte Vertreter*innen zu nennen. Die „Neue Sachlichkeit“ verschrieb sich einem nüchtern dokumentarischen Blick auf die Sichtbarkeit der Dinge. Kennzeichnend sind klare Bildkonzepte, die Beschäftigung mit Alltagsobjekten und eine Melancholie, die sich häufig aus den gesellschaftlichen Umbrüchen jener Zeit speist. Wie sich Sander mit der Dokumentation von Menschen des 20. Jahrhunderts widmet, so beschäftigte sich Blossfeldt dezidiert mit der Dokumentation der Formen der Botanik. Der klare nüchterne Blick, die Genauigkeit und eine Melancholie ist den Fotografien Blossfeldts inhärent und sofort augenfällig. Die dunkle und geheimnisvolle Ausstrahlung seiner Arbeiten weckte auch das Interesse der Surrealisten. Blossfeldts Werk könnte somit als Schnittpunkt dieser beiden Kunstrichtungen angesehen werden.

Das Werk Karl Blossfeldts ist eines der ersten, das sich umfangreich und systematisch mit den Mitteln der Fotografie der Natur zuwendet. Hans Dickel schreibt zum Einzug der Fotografie in der Kunst: „Die Photografie war in den Paragone der Künste eingetreten [...] und machte [...] der bildenden Kunst Konkurrenz, indem sie der sichtbaren, der geschaffenen Natur neue Bilder abgewann.“ (4) In den Bildern Blossfeldts liegt deswegen hier ein Alleinstellungsmerkmal und eine besondere Perspektive für die Berücksichtigung im Kontext der Naturbetrachtung vor. Im Seminar haben wir uns u.a. die Pflanzendarstellungen der Künstlerin und Naturforscherin Maria Sibylla Merian (1647-1717) angeschaut. Entgegen der zeichnerischen Dokumentation Merians, sind die Bilder Blossfeldts eine frühe Naturbetrachtung mit den Mitteln des neuen Mediums der Fotografie. Die Geburt dieser stellte eine Zäsur dar. Sie hatte eine signifikante Veränderung unserer Blickes und unseres Verständnisses von Bildern zur Folge, insbesondere auch von Bildern der Natur.

Der Wert einer Besprechung Blossfeldts liegt in seiner besonderen dualistischen Gestalt: sein Werk beschreibt eine sowohl wissenschaftlich konservatorische als auch künstlerisch ästhetische Auseinandersetzung mit der Betrachtung von Natur bzw. von Formen der Natur.


(1) Vgl. Wilde, 1998, Umschlagtext. (2) Vgl. Wilde, 1998, S. 8. (3) Ingelmann, 1900/1925, o.S. (4) Dickel, 2006, S. 141.

Literaturverzeichnis

Dickel, Hans: Kunst als zweite Natur- Studien zum Naturverständnis in der modernen Kunst, Berlin, 2006, 336 Seiten.

Ingelmann, Inka Graeve: Was blüht denn hier so neu-sachlich? Aus dem Nachlass Blossfeldt, 1900/1925, online unter: https://www.ernst-von- siemens-kunststiftung.de/objekt/was-bl%C3%BCht-denn-hier-so-neu- sachlich-aus-dem-nachlass-blossfeldt-1900-1925.html (letzte Ansicht am 27.09.2022)

Wilde, Jürgen/Wilde, Ann: Karl Blossfeldt. Fotografie. Ostfildern, 1998.

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