Kunst- und Wunderkammern

Zwischen unvoreingenommenem Staunen und der Abgrenzung von einer konstruierten Fremde

Veröffentlicht am 17.12.2023

„Im Berliner Schloss war die Kunstkammer, die Kunstkammer war ein Mikrokosmos der gestalteten Welt. In diesem Mikrokosmos gab es einen großen Bereich von Werken außereuropäischer Kulturen, vorkolonial gesammelt, also nicht als Trophäe, sondern aus Wissensdurst und Empathie und Sympathie für fremde Kulturen“ (1). Mit dieser Aussage legitimiert der Gründungsintendant des Humboldt Forums Horst Bredekamp am 27. Juli 2015 in einem Deutschlandfunk-Interview mit Burkhard Müller Ulrich die Kunstkammer, die zu diesem Zeitpunkt das Zentrum der geplanten Rekonstruktion des Berliner Schlosses bilden sollte. Bredekamp geht davon aus, dass Kunst- und Wunderkammern im Gegensatz zu Museen einen freieren, offeneren und respektvolleren Blick ermöglichen, zum unschuldigen und vorurteilsfreien Staunen einladen und Objekte aus unterschiedlichen Ländern und mit verschiedensten Hintergründen auf Augenhöhe präsentieren. (2) Mit dieser Annahme ist der Kunsthistoriker nicht allein. Kunst- und Wunderkammern erleben seit dem Ende des 20. Jahrhunderts eine regelrechte Renaissance und gehören zu den beliebtesten Ausstellungskonzepten der letzten Jahre. (3) Neue und nachgestaltete Kunstkammern wurden bereits in Halle (1995), Budapest (2005), Dresden (2006), Amsterdam (2009), Berlin (2010–2020) und an vielen weiteren Orten eröffnet. Während die meisten Rekonstruktionsversuche jedoch eher musealisierten Fassungen des Ursprungsgedanken gleichen, (4) hat es sich der Münchner Sammler, Georg Laue zur Aufgabe gemacht, in seiner privat geführten Kunstkammer die „Atmosphäre der fürstlichen Kunstkammern“ (5) wiederzubeleben. „In prunkvollen Räumlichkeiten zeigt er Objekte musealer Qualität aus dem 16.-18. Jahrhundert, die in den Kunst- und Wunderkammern der Renaissance und des Barock zu bestaunen waren: außereuropäische Gegenstände (Exotica), Naturalien (Naturalia), wissenschaftliche Instrumente (Scientifica), Wunderwerke (Mirabilia), Kunstobjekte (Artificalia)” (6). Doch wie zeitgemäß ist das Konzept und der Sammlungstypus der Kunst- und Wunderkammer heute wirklich noch? Wie sind die Sammlungen entstanden und wie wird mit ihnen umgegangen? Welchen Blick auf die Geschichte und welche Ideale präsentieren die ausgestellten Objekte einem zeitgenössischen Publikum? Diese Fragen sollen im Folgenden beleuchtet und kritisch diskutiert werden.

Naturkundemuseum Berlin, Vitrine Biodiversität © Wikimedia 01.01.2008 Axel Mauruszat

1. Die Kunst- und Wunderkammern des 16. – 18. Jahrhunderts
Entscheidend für die Entstehung und Verbreitung des Sammlungstypus der Kunst- und Wunderkammer waren eine Reihe neuer Entwicklungen und naturwissenschaftlicher Erkenntnisse sowie das Ausgreifen der Europäer:innen nach Übersee zu Beginn der Neuzeit. (7) Der Begriff Kunst- und Wunderkammer tauchte erstmals 1594 in Tirol auf. (8) Beschrieben wurde damit eine Mischform von naturkundlich-technischer und historisch-kulturgeschichtlicher Sammlung, die Kunstwerke aller Gattungen einschloss. (9) Die in den Sammlungen präsentierten Objekte wurden häufig in die Kategorien Naturalia (Naturalien), Artificalia (Kunstwerke), Scientifica (wissenschaftliche Instrumente), Exotica (außereuropäische Objekte) und Mirabilia (unerklärliche Dinge) unterteilt, wenngleich die Übergänge zwischen den einzelnen Kategorien häufig fließend waren und die Bezeichnungen verschieden ausgelegt wurden. Im Gegensatz zum heutigen Museum basierte die Idee der Kunstkammer auf einem ganzheitlichen Sammlungsbegriff mit dem Ziel, ein Abbild der Welt im Kleinen zu schaffen. (10) Für die Sammler:innen zählte jedoch besonders die Kuriosität, Seltenheit und der ästhetische Wert der Objekte. Statt einer systematischen Zusammenstellung lag der Fokus eher auf dem Sammeln und Ansammeln von Besonderheiten. Legitimiert wurden die Sammlungspraktiken durch den europäischen Gedanken des Rettens (11) von Kulturgütern durch eben jenes Sammeln, Archivieren und Präsentieren. Die Herkunfts- und Entstehungsgeschichte der einzelnen Objekte war für die sammelnden Europäer:innen dabei nicht von Bedeutung und ging meist verloren. Vage geografische Angaben, die im Nachhinein zugeordnet wurden, schufen dagegen ein homogenes Bild einer konstruierten außereuropäischen Fremde innerhalb der Wunderkammer. (12) Die Vorgehensweise des Sammelns und Ausstellens war stark von christlichen Traditionen und dem Glauben an die Magie einzelner Artefakte beeinflusst. (13) So wurden um alltägliche Gegenstände Geschichten gesponnen, die diese für das europäische Publikum in faszinierende Raritäten verwandelten. (14) Schnell entwickelten sich Kunst- und Wunderkammern zu einem Ausdruck von Wissbegier, Macht und dem kultivierten Lebensstil von Fürsten, Adligen, Gelehrten und Patriziern. (15) Vor diesem Hintergrund scheint es nicht verwunderlich, dass es zu einem regelrechten Wettlauf der europäischen Eliten um die Objekte und das damit einhergehende Prestige kam. (16) Ein reger Handel untereinander mit verschiedensten Kulturgütern entstand. Die Sammlungsumstände und mutmaßliche Ausbeutung der Herkunftsgesellschaften, die mit der Masse an Objekten, die nach Europa verschifft wurden, zusammenhing, ist dagegen in den meisten Fällen bis heute ungeklärt.

Die lange Geschichte der Kunst- und Wunderkammern wurde schließlich durch weitere Fortschritte in der Forschung und das stetige Anwachsen der Bestände ab der Mitte des 18. Jahrhunderts unterbrochen. Die Zahl der Differenzierungen und damit auch die Zahl an Museen nahm zu. (17) Statt der universellen Wunderkammer wurden Objekte nun in Spezialsammlungen präsentiert. (18)

2. Renaissance der Kunst- und Wunderkammern
Wenn Kunst- und Wunderkammern jedoch bereits am Ausgang des 18. Jahrhunderts als überholtes Konzept galten, warum erleben sie dann in den letzten Jahren eine Wiederbelebung? Die wachsende Suche nach Formen der Erneuerung der Museen hat das allgemeine Interesse an dem Konzept der Wunderkammer wachsen lassen. (19) Die Idee des spielerischen Nebeneinanders von Kunst, Natur, Wissenschaft und Technik und das Zusammenführen von sogenanntem Eigenen und Fremden bestimmt dabei die Argumentation für das Ausstellungsprinzip. (20) Begründet wird die Relevanz von heutigen Wunderkammern außerdem durch ihr angebliches Vermögen, verschiedene Kulturen gleichberechtigt, vorurteilsfrei und respektvoll darzustellen – wie es bereits am Anfang dieses Textes in dem Zitat von Horst Bredekamp anklang. Neuere Kunst- und Wunderkammern sollen – so schreibt es der Historiker Dominik Collet – „Deutschlands Beziehungen zur Welt nicht länger auf die Erfahrungen der Kolonialzeit reduzieren“ und am Beispiel des Humboldt Forums „der engen nationalstaatlichen Tradition des Schlosses einen interkulturellen Begegnungsraum“ (21) entgegenstellen. Diese zeitgenössischen Deutungsversuche lassen jedoch außer Acht, dass Kunst- und Wunderkammern stets nur Fragmente einer viel komplizierteren Welt abbildeten, welche zusätzlich durch europäische Projektionen, religiöse Vorurteile und politische Machtinteressen bestimmt waren. (22) Wie jeder Ausstellungsraum standen auch in Kunst- und Wunderkammern die Werke nie für sich, sondern wurden stets in einem Kontext präsentiert, der gesteuert wurde und so die erwünschten Narrationen herstellte. (23) So kann beispielsweise nicht von einer Präsentation auf Augenhöhe von Objekten unterschiedlicher Herkunft gesprochen werden, wenn außereuropäische Objekte durch die Zuordnung zum Begriff Exotica vereinheitlicht und exotisiert und häufig in der Nähe von Naturalien präsentiert wurden. Eine Assoziation der Objekte mit Naturnahmen wurde dem Publikum so bereits durch die räumliche Verordnung in der Kunstkammer nahegelegt. (24) Auch fehlten in den Sammlungen gänzlich Objekte, die einen Kulturtransfer zwischen Europa und verschiedenen Herkunftsländern bewiesen. Diese passten nicht in das Bild der ursprünglichen Fremde, welches in der Wunderkammer erzeugt wurde. Die Handlungsmacht darüber, was für eine Geschichte in den Wunderkammern erzählt wurde, lag bei den (europäischen) Sammelnden und Ausstellenden. Die Privilegierung von sogenannten Expert:innen und der Ausschluss der Präsentierten sind Problemfelder, die bereits in Kunst- und Wunderkammern vorherrschten und die nicht durch ihre aktuelle Wiederbelebung umgangen werden können. Vielmehr sollten Kunst- und Wunderkammern heute als das gesehen werden, was sie waren: Eine Möglichkeit durch Abgrenzung vom vermeintlichen Anderen, eine europäische Identität innerhalb der expandierten Welt zu stärken. Ein Wunsch, der auch in Debatten der letzten Jahre wieder lauter wird. Vor diesem Hintergrund scheint die Renaissance der Kunst- und Wunderkammern nicht verwunderlich. Bedenklich wird es jedoch, wenn das Sammlungsprinzip herangeführt wird, um einen gegenteiligen Eindruck zu erzeugen. Statt sich kritisch mit der eigenen kolonialen Vergangenheit auseinanderzusetzen, wird sich so in romantisierten Vorstellungen einer als „vorkolonial“ beschriebenen Zeit gewogen. Dabei macht die Beschäftigung mit Kunst- und Wunderkammern doch eigentlich deutlich, wie früh sich schon koloniale Denkmuster und die Vorstellung einer fremden Gegenwelt außerhalb Europas in den Sammlungen konstruierten und verfestigten.

(1) Bredekamp/Müller-Ulrich 2015 (Letzter Zugriff am 26.09.2022). (2) Collet 2012, S. 268. (3) Collet 2015, S. 158. (4) Beßler 2015 (Letzter Zugriff am 26.09.2022). (5) Kunstkammer Georg Laue (Letzter Zugriff am 26.09.2022). (6) Kunstkammer Georg Laue (Letzter Zugriff am 26.09.2022). (7) Thamer 2015, S. 37. (8) Thamer 2015, S. 38. (9) Weissert 2011, S. 293. (10) Reuther 2021, S. 115. (11) Im Folgenden werden Begriffe, die in kolonialen Kontexten geprägt wurden kursiv gedruckt, um auch im Lesefluss eine Distanz offensichtlich zu machen. (12) Collet 2015, S. 162. (13) Thamer 2015, S. 40. (14) Collet 2015, S. 161. (15) Weissert 2011, S. 293. (16) Thamer 2015, S. 40. (17) Weissert 2011, S. 294. (18) Miehlbrandt 2020, S. 13. (19) Döpfner 2016, S. 406. (20) Collet 2015, S. 157. (21) Collet 2015, S. 158. (22) Collet 2015, S. 159. (23) Botti 2021 (Letzter Zugriff am 26.09.2022). (24) Collet 2015, S. 161.


3. Literaturverzeichnis

Beßler, Gabriele: „Kunst- und Wunderkammern“, in: Europäische Geschichte Online, 09.07.2015, URL: http://ieg-ego.eu/de/threads/crossroads/wissensraeume/gabriele-bessler-kunstkammern-und-wunder-kammern (Letzter Zugriff am 26.09.2022).

Botti, Lisa: „Provenienzforschung. Von der Kunstkammer ins Museum“, in: Blog der Staatlichen Museen zu Berlin, 21.06.2021, URL: https://blog.smb.museum/von-der-kunstkammer-ins-museum/ (Letzter Zugriff am 26.09.2022).

Bredekamp, Horst/Müller-Ulrich, Burkhard: „Bürgerhaus und Mikrokosmos-Modell für das 21.Jahrhundert“, in: Deutschlandfunk, 27.07.2015, URL: https://www.deutschlandfunk.de/humboldt-forum-buergerhaus-und-mikrokosmos-modell-fuer-das-100.html (Letzter Zugriff am 26.09.2022).

Collet, Dominik: „Fremde Dinge. Das Exotika früherer Museen und das europäische Geschichtsbewusstsein“, in: Judith Becker / Bettina Braun (Hrsg.): Die Begegnung mit Fremden und das Geschichtsbewusstsein, Göttingen 2012, S. 267-286.

Collet, Dominik: „Kunst- und Wunderkammern“, in: Pim den Boer et al. (Hrsg.): Europäische Erinnerungsorte Band 3. Europa und die Welt, München 2015, S. 157.164.

Döpfner, Anna: „Wunderkammer“, in: Ders. (Hrsg.): Frauen im Technikmuseum. Ursachen und Lösungen für gendergerechtes Sammeln und Ausstellen, Bielefeld 2015, S. 193-208.

Miehlbradt, Sandra: „Von königlichen Audienzen, stillen Helfern und Jagdtrophäen. Das Sammeln naturkundlicher Objekte für das Museum für Naturkunde im kolonialen Kontext“, in: Heinz Peter Brogatio / Mathias Röschner (Hrsg.): Koloniale Spuren in den Archiven der Leibniz-Gemeinschaft, Halle 2020, S. 12-23.

Reuther, Silke: „Sammlungen der angewandten und ostasiatischen Kunst“, in: Deutscher Museumsbund e.V. (Hrsg.): Leitfaden. Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten, Berlin 2021, S. 115-117.

Thamer, Hans-Ulrich: Kunst sammeln. Eine Geschichte von Leidenschaft und Macht, Mainz 2015.

Weissert, Caecilie: s.v. „Museum“, in: Ulrich Pfisterer (Hrsg.): Metzler Lexikon Kunstwisssenschaft, Stuttgart/Weimar 2011, S. 292-295.

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